Buchrezension: Julia Shaw, Das trügerische Gedächtnis – wie unser Gehirn Erinnerungen fälscht

Julia Schaw, „The Memory Illusion – Remembering, Forgetting, and the Science of False Memory“, Random House Books, 2016

Deutsche Übersetzung: „Das trügerische Gedächtnis – wie unser Gehirn Erinnerungen fälscht“ erschienen bei Hanser, 2016

Julia Shaw ist eine Rechtspsychologin, die als senior lecturer für Kriminologie an der London South Bank University lehrt und forscht. Ihr Schwerpunkt ist die Fehleranfälligkeit des Erinnerungsvermögen. Sie konzentriert sich auf falsche Erinnerungen, die nicht realen Erlebnissen entsprechen. Dies hat besonders bei der Bewertung von Zeugenaussagen bei der Strafverfolgung schwerwiegende Konsequenzen, wenn Unschuldige aufgrund von fehlerhaften Erinnerungen beschuldigt und sogar verurteilt werden.

Erinnerungen, die mit Details bebildert und emotional und mit Überzeugung vorgetragen werden, müssen nicht der Realität entsprechen. Julia Shaw führt – vom Ethikausschuss gebilligte – Experimente in ihrem Labor durch, in denen sie nachweisst, dass sie bei einem hohen Prozentsatz ihrer psychisch gesunden Probanden Erinnerungen an Ereignisse einpflanzen kann, die nie statt gefunden haben. Sie ist überzeugt, und deshalb werden diese Experimente auch genehmigt, dass nur durch Forschung geklärt werden kann, wie solche Erinnerungsillusionen entstehen und funktionieren. „I am a memory hacker“, so stellt sie sich dem Leser vor. Und sie zitiert ihre Kollegin Elizabeth Loftus als Geleitwort: „Unsere Erinnerungen werden geformt. Sie sind wieder umformbar. Erinnerungen funktionieren wie eine Wikipedia Seite, Sie könnten sich einklicken und sie verändern, aber andere Leute können das auch.“ (Übersetzung durch die Verfasserin)

Julia Shaw hat ihr Buch zwar nicht speziell für Psychotherapeuten geschrieben, aber solche Forschung ist auch für uns Psychotherapeuten interessant und wichtig.
Interessant sind die Ausführungen zu neuronalen Netzwerken, Assoziationsketten und Konfabulation.

Technisch wichtig ist: Wir arbeiten mit Erinnerungen – und indem wir mit Erinnerungen arbeiten, verändern wir diese Erinnerungen.

Julia Shaw hat eine kritische Einstellung zur Psychotherapie. Sie widmet den Erinnerungen an Traumata das 9. Kapitel, dessen Untertitel lautet: „Warum wir fälschlicherweise traumatische Erlebnisse erinnern können.“

Es kann besonders für tiefenpsychologisch oder psychoanalytisch tätige Therapeuten auch eine Herausforderung sein, ihre wissenschaftlich fundierten Stellungnahmen zur Kenntnis zu nehmen – aber sie regen zur kritischen Selbstreflexion an.

Die Autorin schreibt z.B. humorvoll über einen gedanklichen Spaziergang mit Freud, der damals in Fussentfernung von ihrer heutigen Londoner Wohnung lebte. Aber sie schreibt auch „we would almost certainly hate each other“, und Julia Shaw zitiert ihren Kollegen Chris French (2015): „Es gibt keinen glaubwürdigen Hinweis für ein Wirken von dieser psychoanalytischen Vorstellung über Verdrängung – und sehr deutliche Hinweise, dass die Bedingungen, unter der Therapie statt findet, tatsächlich ideale Bedingungen sind für das Erzeugen von falschen Erinnerungen.“ (Übersetzung durch die Verfasserin)

Als problematisch in einer therapeutischen Situation gelten bei den Forschern unter anderem: suggestive Fragen oder Anleitungen, Imaginationen, Traumdeutung, Hypnose.

Wir als Psychotherapeuten tragen Verantwortung für den Arbeitsprozess und für die Folgen, die unsere Arbeit für unsere Patienten hat.

Es muss uns aus meiner Sicht interessieren, wie Erinnerung entsteht und wodurch sie sich verändert. Wie zuverlässig sind Erinnerungen, die unserer Patienten und auch unsere eigenen? Wie hängen äußeres und inneres Erleben und Erinnerung zusammen? Wie erkennen wir falsche Erinnerungen bei unseren Patientin, bei uns selbst? Wann führen falsche Erinnerungen zu psychischem Leid? Und: Kontrollieren wir uns ausreichend durch Selbststudium, Intervision und Supervision, damit unsere Arbeit keine suggestiven Elemente enthält?

Was lernen wir für unsere Arbeit aus der False-memory-Science?

Dieser Link führt zu einem Ted Talk von Prof. Elizabeth Loftus von 2013

Ursula Sporer