Rezension: The meta-psychology of guilt and redemption: A case study of Dickens’s Pip, Joseph (Jody) H. Clarke

Jody Clarke ist Psychotherapeut und Theologe und arbeitet in der Abteilung für pastorale Theologie an der Atlantic School of Theology in Halifax, Nova Scotia in Canada.

Er ist seit vielen Jahren IS-TDP Therapeut und Teilnehmer der Closed-Circuit Training Workshops in Montreal.

In diesem Artikel spannt der Autor einen anschaulichen Bogen von der Hauptfigur Pip in dem Roman „Große Erwartungen“ von Charles Dickens aus dem Jahr 1861 zur IS-TDP, die mit einer Fallvignette vorgestellt wird. Dies ist ein spannender, über die therapeutischen Grenzen hinausgehender – und wie ich finde sehr mutiger – Ansatz für die Untersuchung der Bedeutung von komplexen unbewussten Schuldgefühlen und von Wiedergutmachung.

In der abschließenden Diskussion erläutert der Autor eine interessante – für mich sehr unerwartete –  These für die Romanfigur, die den Leser/die Leserin zum Nachdenken anregt!

In der Einführung wird uns der von Schuld verfolgte Charakter Pip vorgestellt.

Philipp Pirrip, kurz Pip, besucht am Weihnachtsabend die Gräber seiner Eltern und seiner 5 Geschwister – so beginnt der Roman. Er ist ein verlassenes und vernachlässigtes Kind, das von dem einzig lebenden Geschwister, Mrs. Joe, aufgezogen wird. Pip hat keine Erinnerungen an seine Eltern. Clarke erwähnt Bowlbys Bindungsforschung und  führt ein in die von Davanloo beschriebenen komplexen Folgen der frühen Traumata: Das Kind erlebt durch den Verlust Schmerz und primitive Wut. Diese primitive Wut löst reaktive Schuldgefühle aus. Das Kind muss mit zwei widersprüchlichen Gefühlen, nämlich Hass und Liebe gegenüber den Bezugspersonen leben. Die Schuldgefühle kann das Kind nicht aushalten und verarbeiten, sie werden – ebenso wie die Wutgefühle –  verdrängt und beeinflussen das Leben durch z.B. selbstzerstörerisches Verhalten, Empathiemangel mit destruktiver Beziehungsgestaltung, Probleme mit Nähe und Intimität zu anderen Menschen.

Clarke geht detailliert auf die Unterscheidung von bewusster („gutartiger“) Schuld und komplexen unbewussten („bösartigen“) Schuldgefühlen ein. Er nimmt Bezug auf Nietzsche, der mit seiner Schrift „Die Genealogie der Moral“ zum Verstehen von Schuld beigetragen hat. Nietzsche argumentierte, dass Schuld zu einer sozialen Moral führen kann. („Gutartige“ Schuld leitet die Menschen an, moralisch gut zu handeln). Diese Moral kann als soziales Konstrukt die wahre Natur von Schuld minimieren, zähmen und wie unter einem Deckel verpacken. Sozial inakzeptable Gefühle werden vergraben und führen zu schlechtem Gewissen und komplexen unbewussten Schuldgefühlen. Dies hat destruktive Folgen (u.a. psychopathologische Veränderungen wie Depression, Somatisierung, zwanghafte Symptome, Ängste).

Die Romanfigur Pip hat auch bewusste Schuld: Er stiehlt eine Feile von seinem Schwager Joe Gargary, damit Magwitch, ein entflohener Strafgefangener, sich aus seinen Ketten befreien kann.

Zwei zentrale Fragen sind – so Clarke –  zu beantworten:

  1. Woher kommen die tiefen Schuldgefühle von Pip?
  2. Wenn das Epizentrum der Schuldgefühle in der frühen Kindheit ist, warum beeinflusst und quält ihn diese Schuld das ganze Leben lang, auch noch als Erwachsener?

Wie Dickens im Roman den Zugang zu den unbewussten Schuldgefühlen beschreibt, ist ähnlich der „Zentraldynamischen Sequenz“, die von Davanloo ausgearbeitet wurde:

  1. Phase der Befragung: Der Therapeut erfragt die Schwierigkeiten des Patienten.
  2. Phase des Drucks: Der Therapeut fragt nach den Gefühlen des Patienten. Das Ziel dieser Phase ist, dem Patienten die wahren Gefühle zu entlocken. Der Patient reagiert mit Widerständen. Die gemischten Gefühle gegenüber dem Therapeuten nehmen zu.
  3. Phase der Klärung: Der Therapeut benennt die Widerstände und stellt sie in Frage. (Früher Phase der Herausforderung). Davanloo betont: Der Therapeut sollte die größtmögliche Sympathie und den größtmöglichen Respekt für den Patienten haben, aber keinen Respekt und keine Wertschätzung für seine Widerstände.
  4. Übertragungswiderstand: Der Patient wird konfrontiert mit der selbstzerstörerischen Kraft der Widerstände. Diese Widerstände sind aktiv in der therapeutischen Beziehung. Der Therapeut fordert den Patienten mit Head-on Collisions auf, sich gegen die Widerstände zu stellen. Die Verantwortlichkeit für Veränderung liegt beim Patienten.
  5. Direkter Zugang zum Unbewussten: Der Patient überwindet seine Widerstände und erlebt seine Gefühle zunächst gegenüber dem Therapeuten, dann – mit Änderung des Bildes – gegenüber seinen frühen Bezugspersonen.

Dynamische Befragung der Gefühle und Erinnerungen gegenüber den Bezugspersonen und der Vergangenheit.

Dickens führt Pip durch einen Prozess, der die Phasen der CDS – bis hin zur Wiedergutmachung – widerspiegelt. Elemente der ersten Phasen finden sich in einem Dialog, der von Clarke wortwörtlich zitiert wird: Pip trifft sich nach dem (gewaltsamen) Tod seiner Schwester mit seiner Freundin Biddy. Biddy fordert ihn auf, die Gründe zu eruieren, warum er seine Schwester und seinen Schwager Joe nicht besucht hat. Biddy tröstet nicht, sondern konfrontiert Pip mit seinem destruktiven Verhalten. Pip behauptet, Joe besuchen zu wollen. Biddy schweigt dazu (Druck). Seine Übertragungsgefühle und die Angst steigen an. Biddy fragt Pip, ob er seinen Schwager wirklich besuchen will. (Betonung des eigenen Willens). Biddy verlangt Blickkontakt mit ihm (Druck). Am Ende des Dialogs klagt Pip Biddy an (primitiver Abwehrmechanismus). Er kann nach dem Gespräch nachts nicht schlafen und ärgert sich über Biddy. Unbewusste Schuldgefühle sind Pip hier nicht bewusst geworden.

Clarke verweist hier auf die IS-TDP mit der wichtigen Intervention der HOC, die angewendet wird, wenn der Widerstand in der Übertragung ist und er erwähnt zwei grundlegende Elemente der IS-TDP, die Unbewusste Therapeutische Allianz und die Übertragungskomponente des Widerstands (TCR).

Wie kann ein Therapeut dem Patienten helfen, – wie hätte Biddy als IS-TDP Therapeutin Pip weiter helfen können? – die tief vergrabenen Gefühlsschichten zugänglich zu machen?

Der therapeutische Prozess mit IS-TDP wird illustriert durch eine Fallvignette des Autors „Der leere Mann“ mit ausführlichen Verbatimprotokollen.

Der Patient Norman berichtete über Ängste und Probleme in Beziehungen, v.a. zu seiner Frau und seinen Töchtern. Im Lauf seines Lebens hatte er einige Verluste. Am einschneidensten war der Tod seines Vaters, als er 8 Jahre alt war: der Vater hatte sich auf dem Dach des Hauses erhängt und war tot vom Patienten  und seinem Bruder gefunden worden.

In der ersten Sitzung fragte der Therapeut den Patienten nach seinen Problemen. Es stellte sich heraus, dass er ängstlich und distanziert ist. Der Therapeut erklärte die therapeutische Aufgabe: „Sie sind erfolgreich im Leben, werden aber von Ängsten geplagt. Sie lieben Ihre Frau und Ihre Kinder, aber Sie verhalten sich ihnen gegenüber distanziert, als sei eine Wand zwischen Ihnen und der Welt. (…)Möchten Sie die Kräfte untersuchen, die Sie ängstlich machen und diese Wand verursachen?“

Nach Durchbrüchen ins Unbewusste, die dem Vater galten, kam es in der fünften Sitzung zu einem Wut-Durchbruch auf den Bruder gefolgt von sehr intensiven schuldbeladenen und liebevollen Gefühlen.

In der Diskussion werden die Parallelen der Probleme von Pip und Norman (v.a. die Probleme mit Nähe zu anderen Menschen) verdeutlicht.

Für Pip ist die These des Autors: seine komplexen Schuldgefühle gelten nicht seinen Eltern, sondern seiner Schwester Mrs. Joe. Jedoch: Hat er Wut auf seine Schwester? Um vergrabenen Gefühle von Pip zu verstehen, ist eine weitere Figur wichtig: Orlick, ein streitsüchtiger, verantwortungsloser Geselle, wird vom Schmied Joe gefeuert, nachdem er einen Wortwechsel mit Mrs. Joe hatte. Pip hatte einen freien Nachmittag genehmigt bekommen. Diese Bevorzugung ärgert Orlick.  Er macht für den Streit und seine nachfolgende Kündigung Pip und Mrs Joe verantwortlich. Voller Wut und Rachegefühle attackiert er Mrs. Joe. Sie wird so schwer verletzt, dass sie an den Folgen der Verletzungen stirbt. Orlick gibt Pip die Schuld an Mrs. Joe’s Tod.

Die Wut von Pip (auf seine Schwester) wird zugänglich durch die Person Orlick. Er ist wie eine Rohrleitung für die unbewussten Kräfte von Pip und aktualisiert die unbewusste mörderische Wut von Pip auf seine Schwester.

Später wird Pip von Orlick in einen Hinterhalt gelockt. In der Auseinandersetzung mit Orlicks Beschuldigungen erlebt Pip seine komplexen Gefühle. Angesichts seines drohenden Todes (Orlick will ihn  ermorden – aber der Plan missglückt) blickt Pip zurück mit Ehrlichkeit und Klarheit, erlebt Schuldgefühle und Trauer, beginnt zu beten und denkt mit Empathie an jene, die gut zu ihm waren. So kann eine Wiedergutmachung beginnen.

In der Schlussfolgerung fügt Clarke wichtige Puzzlesteine zusammen, die zu Dickens’ Roman und der IS-TDP gehören. Beispielsweise betont er die komplexen unbewussten Schuldgefühle, die Pip durchlebt – und die zentrale Bestandteile der IS-TDP sind. Sie sind wesentliche Ursachen für die Charakterpathologie. Der Autor verdeutlicht, wie in der IS-TDP die Übertragungsbeziehung systematisch genutzt wird oder mit welchen Interventionen gearbeitet wird. Im Roman macht Biddy z.B. Druck auf Pips Charakterwiderstände. Betont werden die neurobiologischen Abfuhrwege der Gefühle. In der Figur von Orlick bekommen die Wutgefühle von Pip auf seine Schwester eine Art Ventil. In der Folge hat Pip intensive Schuldgefühle.

Das Durcharbeiten der Schuldgefühle ermöglicht eine Befreiung aus der Sklaverei, Empathie, positive Nähe zu geliebten Menschen, inneren Frieden. Das erlebt Norman in der Therapie und das erlebt Pip am Ende des Romans, als er Magwitch, der ihm immer wohlgesonnen war, kurz vor dessen Tod trifft und sich mit ihm aussöhnen kann.

So schließt sich der Bogen auch dem Leser/der Leserin, wie sich „große Erwartungen“ erfüllen können, wenn Wiedergutmachung und Aussöhnung möglich sind.

Dr. Irene Ostertag

Joseph (Jody) H. Clarke: The meta-psychology of guilt and redemption: A case study of Dickens’s Pip (Die Metapsychologie von Schuld und Wiedergutmachung: eine Fallstudie von Dickens’ Pip), in: Journal of Spirituality in Mental Health, Routledge 2018

https://doi.org/10.1080/19349637.2018.1459221