Gerhard Roth, Nicole Strüber: „Wie das Gehirn die Seele macht„,
Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2014 , 425 Seiten
Gerhard Roth, Philosoph und Biologe hat mit Nicole Strüber, Neurobiologin und Psychologin, für interessierte Laien den aktuellen Erkenntnisstand der neurobiologischen Grundlagen des Seelisch-Geistigen zusammengefasst.
Grundlage der Überlegungen der Autoren ist ihre Überzeugung, dass sich Psyche und Geist in das Naturgeschehen einfügen und dieses nicht transzendieren. Ein einführender geschichtlicher Überblick mündet in der Erkenntnis, dass es aus neurobiologischer Sicht keinen vernünftigen Zweifel daran geben kann, dass das Gehirn die Seele hervorbringt. Demzufolge stellen die Autoren zur Einführung in einer „kleinen Gehirnkunde“ das menschliche Gehirn und seine neuronalen Funktionsweisen vor.
Großes Gewicht liegt auf der Darstellung des limbischen Systems als dem „Sitz der Seele“ und einem Überblick über Neuromodulatoren, Neuropeptide und Neurohormone. Roth und Strüber unterscheiden eine untere, mittlere und obere limbische Ebene und sechs psychoneurale Grundsysteme:
- Stressverarbeitungssystem
- das interne Beruhigungssystem
- das interne Bewertungs- und Belohnungssystem
- das Impulshemmungssystem
- das Bindungssystem
- das System des Realitätssinns und der Risikobewertung.
Nach einer Ausführung über die Entwicklung von Gehirn und kindlicher Psyche verbinden die Autoren schließlich die bisher dargestellten Wissensteile zu einer Gesamtschau der Persönlichkeit und deren neurobiologischen Grundlagen: Gene und Erfahrungen beeinflussen synaptische Verknüpfungen und legen fest, wo und in welcher Menge bestimmte Neuromodulatoren ausgeschüttet werden. Hierüber haben sie Auswirkungen auf die Persönlichkeit – und hier liegen auch die sensiblen Bereiche für Persönlichkeitsstörungen.
Nun wird es für praktizierende Psychotherapeuten interessant:
Roth und Strüber konzentrieren sich auf die häufigsten psychischen Erkrankungen und Persönlichkeitsstörungen (Depressionen, Angststörungen, PTBS, Zwangsstörung, Borderline-Persönlichkeitsstörung, Antisoziale Persönlichkeitsstörung und Psychopathie) und zeigen auf, dass diese von jeweils spezifischen neuromodulatorischen Fehlregulationen und funktionellen Veränderungen limbischer Hirnregionen begleitet werden.
Damit stellt sich auch die Frage nach der Wirksamkeitsweise von Psychotherapie. Die Autoren fokussieren auf die von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlten Verfahren der Verhaltenstherapie und der Psychodynamischen Therapieformen. Sie stellen nicht in Frage, dass Psychotherapie wirkt sondern beschäftigen sich mit folgenden Fragen:
- Wie können Korrelate einer erfolgreichen Psychotherapie im Gehirn aussehen und mit welchen Mitteln kann die Hirnforschung diese erfassen?
- Wie sind die Kernaussagen der hier behandelten Psychotherapieverfahren über deren Wirkungsweise aus neuobiologischer Sicht zu beurteilen?
- Wie lassen sich die als psychotherapeutischer Hauptwirkfaktor nachgewiesene „therapeutischen Allianz“ und der dabei unterstellte Placeboeffekt neurobiologisch interpretieren?
- Wie ist aus neurobiologischer Sicht die Existenz zweier Therapiephasen zu beurteilen
Besonders spannend habe ich persönlich den Abschnitt über das Bewusstsein, das Vorbewusste und das Unbewusste empfunden, weil Fragen über Inhalte psychodynamischer Therapiekonzepte aufgeworfen werden, auch über diejenigen der IS-TDP.
Nach gegenwärtiger neurobiologischer Mehrheitsmeinung ist es entscheidend, ob Informationen über Personen und Geschehnisse jemals in das Langzeitgedächtnis gelangen oder ob sie nie dahin gelangen. Dazu gehört die Ausreifung spezifischer Hirnrindenareale für das Langzeitgedächtnis und deren Organisator, dem Hippocampus ungefähr im 3. Lebenjahr. Inhalte, die nicht im Langzeitgedächtnis vorhanden sind, können deshalb unter keinen Umständen bewusst gemacht werden. Aus der Sicht der Neurobiologie ist sicher, dass es nur eine Verdrängung von einmal Bewusstem ins Vorbewusste gibt, aber nicht ins Unbewusste.
Gleichzeitg hat die neurobiologische Forschung aber für die psychodynamischen Verfahren bestätigt, dass Störungen unbewusster limbischer Prozesse die Grundlage psychischer Erkrankungen sind und dass frühkindliche traumatische Erfahrungen einen ursächlichen Anteil daran haben, gerade weil sie aufgrund der frühkindlichen Amnesie nicht erinnert werden können.
Roth und Strüber nehmen zu den vorgeblichen Wirkfaktoren auch der psychodynamischen Verfahren Stellung. Sie stellen fest, dass die Konzepte der Traumdeutung und des Ödipuskomplex jeglicher empirischer Fundierung entbehren und dass die Freud`sche Trieblehre eindeutig falsch ist. Zusätzlich bezweifeln sie auch die Vorstellung, dass das Aufdecken unbewusster oder verdrängter Motive Teil des Therapieerfolges sind.
Die Autoren konstatieren, dass sich die im Gehirn des Patienten aufgrund frühkindlicher oder vorgeburtlicher Traumatisierung entstandenen strukturellen und funktionellen Dysfunktionen nur durch mühsames und langwieriges Aktivieren verschütteter Ressouren, etwa im Selbstbild und auf Beziehungsebene, überlernen lassen. Mit Klaus Grawe sagen sie, dass es sich dabei um eine implizite Therapie, eine Therapie der Neubildung von Fühl-, Denk und Handlungsgewohnheiten handele, die sich vornehmlich in den Basalganglien vollzieht. Hier scheint die Neubildung von Nervenzellen in limbischen Strukturen eine Rolle zu spielen. Träger des therapeutischen Prozesses sei die therapeutische Allianz, die an das Bindungssystem anknüpft und der eine erhöhte Oxytocinausschüttung zugrunde liegt.
Viel Stoff zum Nachdenken also!
Roths und Strübers weitere Erkenntnisse und Schlüsse möchte ich an dieser Stelle nicht vorweg nehmen: Machen Sie sich mit den Autoren auf Entdeckungsreise!
„Wie das Gehirn die Seele macht“ konzentriert fundiertes Grundlagenwissen für alle, die sich mit Psychotherapie befassen und an einer naturwissenschaftlichen Herangehensweise interessiert sind. Das Buch ist in angenehm unaufgeregter sachlicher Sprache verfasst. Am Ende jeden Kapitels hilft eine auf das wesentliche konzentrierte Zusammenfassung, den Überblick über das komplexe Detailwissen zu behalten und leitet jeweils zur Fragestellung des folgenden Kapitels über. Bereits vorhandene Grundkenntnisse in Neuroanatomie und Neurophysiologie sind für den Leser auf jeden Fall hilfreich. Die Lektüre ist aufgrund der komplexen Zusammenhänge nicht ohne Anstrengung zu bewältigen – aber die Mühe lohnt sich!
Unbedingt empfehlenswert!
Eine 3D-Orientierungshilfe zur Neuroanatomie finden Sie auf der Website dasgehirn.info
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